Mittwoch, 6. November 2024

Tag 100 – Christchurch (Mittwoch, 6. November)

Der hundertste Tag unterwegs… Es ist wirklich schön, ohne grosse Verpflichtungen unterwegs sein zu dürfen. Gerne nutze ich hierfür einen Begriff, den ich mal gelesen habe und der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Ich bin «Zeitmillionär» :-) Heute geht der Wecker schon ganz früh: um kurz nach halb fünf klingelt er uns aus dem Schlaf. Online-Weiterbildungen sind vom anderen Ende der Welt her möglich, nur sind deren Stundenpläne nicht zwingend auf die neuseeländische Zeit abgestimmt ;-) So beginnen wir den Tag fleissig, Andrea macht ihre Weiterbildung und ich entwerfe einen ersten Überblick fürs Frühlingssemester, damit ich spontane Gedanken, die bei all diesen inspirierenden Erlebnissen immer wieder aufploppen, schon am passenden Ort versorgen kann. Der Halt hier in Christchurch gehört dazu – sowohl was das Thema Erdbeben als auch was das Thema Stadtplanung betrifft. Danach gibt es aber erst einmal Frühstück. In unserem herzigen Hotel gibt es dieses in der grossen Küche am «Familientisch». Danach besteigen wir das Nostalgie-Tram, welches fast direkt vor unserer Türe Halt macht. Seit 1954 verkehren in der Stadt keine Trams mehr als regulärer ÖV, aber seit 1995 tingeln schön restaurierte alte Trams als Touristenlinie durch die Stadt. Unsere Fahrerin versorgt uns dabei mit vielen Informationen, so dass es ein guter Start ist, um die Stadt etwas kennenzulernen. Christchurch erlangte in den Jahren 2010 und vor allem 2011 traurige Bekanntheit. Am 4. September 2010 erschütterte ein starkes Erdbeben die Region und führte vor allem in den ländlichen Gegenden zu grossen Schäden. Nur wenige Monate später, am 22. Februar 2011, bebte die Erde um 12.51 so heftig, dass weite Teile der Innenstadt von Christchurch zerstört wurden. In der Folge mussten 80-90% der Häuser des Stadtzentrums abgerissen und die Stadt neu «erfunden» werden. In solchen Situationen stellen sich grosse und weitreichende Fragen: Soll die Stadt eins-zu-eins wieder hergestellt und aufgebaut werden? Soll die Chance genutzt werden, die Stadt «besser» neu zu gestalten? Wer hat das Sagen: die Regierung, die Bewohnenden, die Wirtschaft? All diese Fragen stellten sich hier – und es gibt unterschiedliche Antworten drauf. Vor dem Wiederaufbau wurde ein «People’s Plan» erarbeitet. Wie der Name erahnen lässt, wurde dieser nach umfassenden Konsultationen mit der Öffentlichkeit und anderen Gruppen erstellt. Dieser hat ein klares Mandat für eine kompakte, lebenswerte und nachhaltige Stadt geliefert. Viele der Ideen gerieten in den Gegenwind der Realität, aber eine maximale Höhe von 28 Metern für Neubauten in der ehemaligen «roten Zone» – das ist die Zone, in welcher alle Gebäude abgerissen werden mussten – konnte durchgesetzt werden. In der Stadt mussten unfassbare 1240 Gebäude abgerissen werden – allein die Kosten für den Rückbau waren immens, von der Wiederherstellung gar nicht zu sprechen…Mit das Gefährlichste waren die vielen Schornsteine, welche aus Backstein gebaut waren. Diese waren am «Zerbrechlichsten» und wurden in dem Moment zu gefährlichen «Bomben», als sie von den Dächern fielen. Daher wurden sie an vielen Orten ganz abgebaut – offene Feuerstellen und Verbrennungsheizungen wurden verboten, damit es keine Kamine mehr braucht. Die Stadt zahlte den Hauseigentümern dafür die Wärmepumpe. Da die Backsteinbauten bezüglich Erdbebensicherheit besonders ungeeignet sind, dominieren bei den Neubauten Glas und Holz. 13 Jahre nach der Zerstörung zeigen sich in der Stadt ganz unterschiedliche Bilder. Einige Gebäude stehen noch in einem schlechten Zustand, einige Areale sind noch leer oder werden als Parkplatz (zwischen)genutzt, einige sind schön renoviert und viele neu gebaut. So ist es etwas ein «Flickenteppich» mit vielen schönen Ecken und anderen weniger erbaulichen Orten. Christchurch gilt immer noch als eine Hauptstadt der Street Art mit vielen grossflächigen, sorgfältig gestalteten «Murals». Durch die Sanierungen nimmt diese Zahl sukzessive ab. Aber auch diesem Erbe wird Rechnung getragen, an einigen neuen Fassaden prangen neue Bilder. Ganz zentral in der Stadt finden sich zwei Bereiche: Die Cashel Street wurde fast komplett neu erbaut. Es ist eine der wenigen Fussgängerzonen, welche wir bisher im Land angetroffen haben. Dies ist nicht zu 100% korrekt, da das Nostalgie-Tram hier durchfährt, aber es ist eine schön gestaltete, breite und von Bäumen gesäumte Strasse mit vielen Läden und Sitzgelegenheiten. Links und rechts davon gehen kleinere Gässchen weg, welche ebenfalls nicht für Autos befahrbar sind und eine gute Aufenthaltsqualität bieten. Zum Bächlein hin hat es Treppenstufen, welche als «Bänkli» genutzt werden können und an dem Ort, an welchem die Häuser enden und das Ufer beginnt, finden sich Terrassenrestaurants, welche heute gut besucht sind. Zudem findet sich in der ersten Häuserzeile ein grosser Essensmarkt mit vielen schönen Sitzgelegenheiten. Hier wurde gemäss meiner Einschätzung vieles richtig gemacht – und die Gegend scheint von den Bewohnenden angenommen zu werden, zumindest fühlt es sich hier richtig schön und belebt an. Beim zentralen Platz vor der Kathedrale zeigt sich ein anderes Bild: hier dominiert die Baustelle der sich im Wiederaufbau befindlichen Kirche, dem ehemaligen Wahrzeichen der Stadt. Zeitpläne und Budget seien schon mehrfach überschritten worden und es sei nicht abzusehen, ob, wann und wie der Wiederaufbau abgeschlossen werden könne. Nicht weit davon ist das Areal der ehemaligen katholischen «Basilica». Hier klafft eine einzige Lücke. So zeigen sich immer noch grosse «Narben» im Erscheinungsbild der Stadt. Nicht vergessen werden darf die «New Regent Street». Diese etwas versteckte Strasse ist sehr herzig. Sie wurde in den 1930er-Jahren gebaut und ist schön symmetrisch pittoresk angelegt. Hier finden sich Restaurants, Bars und eine Gelateria. Direkt ausserhalb des Stadtzentrums wird am neuen Stadion gearbeitet. Hier seien die Arbeiten auf Kurs – sowohl was das erhoffte Eröffnungsdatum als auch was das Budget angeht… Daneben wurden neue Reiheneinfamilienhäuschen erstellt. Diese sind etwas verdichtet gebaut – aber für die Lage direkt am Stadtzentrum wirklich nur ein bisschen, da alles kleine zweistöckige Häuschen sind. Und noch einige Schritte weiter findet sich das kleine Quartier namens «Boxedquarter». Hier sind in spannender Architektur kleine Restaurants, Bars und Läden zu finden – ich finde es sehr gelungen gemacht. So sind an vielen Ecken interessante neue Areale entstanden, mal gelungener, mal etwas weniger, aber die Stadt scheint lebendig – und auch lebenswert. Dies ist keine Selbstverständlichkeit nach diesem dramatischen Erdbeben – welches eben nicht nur vielen ihr eigenes Zuhause genommen hat, sondern einer ganzen Stadt das gemeinsame Zentrum, welches für alle auch eine Art ein Zuhause ist – oder war… Wir waren den ganzen Vormittag auf Erkundungstour durch all die oben genannten Teile der Stadt – zuerst mit dem Tram und dann zu Fuss. Ich fand dies sehr spannend – der Perimeter der Innenstadt ist überschaubar gross, so dass diese gut in einem Spaziergang entdeckt werden kann. In der beschriebene Gelateria habe ich mich ein erstes Mal gestärkt und fürs Zmittag machen wir Halt in der ehemaligen Post. Diese ist zu einem sehr tollen Restaurant umgestaltet worden mit kreativer Inneneinrichtung. Der Burger kommt per Rohrpost angeflutscht und das Wasser sprudelt aus der alten Nähmaschine ;-) Danach erkunden wir weitere Teile der Stadt, welche ich oben beschrieben habe und holen uns im schön gestalteten Essensmarkt mit gemeinsamen Sitzgelegenheiten noch ein Dessert. So sind wir bereit für «Quake City». Auf dem Weg dahin spazieren wir dem Bach entlang, auf welchem am Wochenende «Punting» gemacht werden kann. Dabei werden flache Schiffe mit Hilfe von langen Stöcken fortbewegt, im Schweizerdeutschen kenne ich hierfür den Begriff «stachle» Quake City ist eine eindrückliche Ausstellung über die Erdbeben von 2010 und 2011 mit vielen Bildern und Erfahrungsberichten, die unter die Haut gehen. Dementsprechend sind wir hier für eine Weile beschäftigt. Danach gehen wir zurück in unsere «Classic Villa» für eine Pause – und um schon mal die ersten Eindrücke und Gedanken zu verschriftlichen. Christchurch ist die Stadt, welche mich in Neuseeland am meisten interessiert(e) aufgrund dieses Neustarts, der nötig wurde. Daher werden wir morgen auch noch eine Tour machen, auf welcher wir hoffentlich viele weitere zusätzliche Informationen erhalten werden. Das Fallbeispiel Christchurch hatte ich bis anhin bereits im Wahlkurs «Stadt» thematisiert, nun habe ich noch viel anschaulichere Informationen dazu :-) Fürs Abendessen zieht es uns nochmals in die Stadt – und hierzu wiederum in die New Regents Street, wo wir in einem der kleinen Häuschen ein ebenso kleines, aber feines, Thai-Restaurant finden. Danach machen wir nochmals einen längeren Spaziergang durch die am Abend ruhigere Stadt und zurück in Richtung Hotel. Dabei machen wir noch einen Umweg zum Park. Hier hat es eine «Sammlung» von unterschiedlichen Strassenlaternen – welche aus Solidarität von verschiedenen Städten «gespendet» wurden. Nach diesem interessanten Tag kommen wir im Hotel an – und schreibe ich meine weiteren Notizen sowie den Blogeintrag für den Tag. Wer noch weiteres Interesse hat, findet nachstehend zusätzliche Informationen. Zum einen unter dem Link https://gapfiller.org.nz/. Diese Organisation versuchte ab Tag 1, wieder Leben und Lebensfreude in die Stadt zu bringen, mit unkonventionellen, aber einfachen Mitteln. Unter dem Link https://www.youtube.com/watch?v=OlrXeh1z1LU ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme zu finden. Er heisst «The Human Scale» und befasst sich mit der Frage, was eine Stadt lebenswert macht. Daraus habe ich bereits in den letzten 99 Tagen immer wieder zitiert. Das Beispiel Christchurch findet sich ab Minute 55.45. Zu guter Letzt folgt ein interessanter Artikel, welchen ich im Internet zum Thema gefunden habe: «Christchurch hat eine noch nie dagewesene Chance verpasst, sich als grüne Stadt des 21. Jahrhunderts wiederaufzubauen, so eine neue Studie. In einem von der Universität Auckland geleiteten Projekt wurde untersucht, was seit den verheerenden Erdbeben von 2010/11 geschehen ist, wobei der Schwerpunkt auf der Frage lag, wie Nachhaltigkeit nach einer Katastrophe in eine Stadt eingebaut werden kann. Der Projektleiter, der Soziologe und Associate Professor Steve Matthewman, sagt, es sei eine „Geschichte von zwei Städten“ entstanden: die, die sich viele Menschen gewünscht haben, und die, die sie anscheinend bekommen haben. Dies wurde deutlich, nachdem man über mehrere Jahre hinweg mit allen Beteiligten gesprochen hatte, von Regierungsministern, Kommunalbeamten, Iwi-Gruppen und Leitern von Wiederaufbau- und Sanierungsbehörden bis hin zu Akademikern, Gemeindeaktivisten, Journalisten und Mitgliedern der Öffentlichkeit. „Die Beben waren in erster Linie eine Tragödie, Menschen starben und wurden verletzt; das Leben wurde unwiderruflich verändert“, sagt er. „Aber sie waren auch eine Gelegenheit für eine umfassende Stadterneuerung, die die Aussicht auf einen besseren Wiederaufbau bot. Und wie Roger Dennis, der Befürworter des Sensing-City-Projekts, sagt: „Es ist, als hätte jemand die Innenstadt von Christchurch herausgepickt ... niemand auf der Welt baut das Herz einer lebendigen Stadt von Grund auf neu auf“. Vor allem nach dem Beben vom Februar 2011 waren die Verwüstungen groß. Insgesamt 3.000 Gebäude waren irreparabel beschädigt, 1.628.429 Quadratmeter Straße mussten saniert werden, und 659 km Abwasserrohre und 69 km Wasserleitungen waren ebenfalls schwer beschädigt. Das Projekt wurde als zu groß für den Stadtrat von Christchurch (CCC) erachtet, dem 2011 von der Canterbury Earthquake Recovery Authority (CERA) der Zentralregierung, die vom damaligen Minister Gerry Brownlee geleitet wurde, die Kontrolle über den Wiederaufbau der Stadt entzogen wurde. Und von da an ging es nicht gut weiter, sagt Dr. Matthewman. „Der 'People's Plan' (Share an Idea), der nach umfassenden Konsultationen mit der Öffentlichkeit und anderen Gruppen erstellt wurde, hatte ein klares Mandat für eine kompakte, lebenswerte und nachhaltige Stadt geliefert, eine 'grüne Stadt' mit energieeffizienten Gebäuden entlang von baumgesäumten 'Ökostraßen', wie es in einem Bericht heißt.“ Die Zentralregierung hat sich jedoch der lokalen Regierung bemächtigt, und der People's Plan wurde durch den regierungseigenen Plan „Christchurch Central Recovery Plan“ ersetzt. Der Aktivist John Minto sagte, Share an Idea sei „ein Ausfluss dessen, was das Herz und die Seele von Christchurch ausmacht“, wohingegen der Wiederaufbauplan der Regierung einfach „ein Unternehmensplan“ sei, der auf einer „vom privaten Sektor gesteuerten Sanierung basiere, und das war ein absolutes Desaster“, eine Ansicht, die von einer Reihe von Menschen geteilt wurde, mit denen ich sprach. Obwohl viele der Meinung sind, dass Christchurch eher die letzte Stadt des 20. als die erste Stadt des 21. Jahrhunderts ist, ist Dr. Matthewman der Meinung, dass die Lage nicht ganz so düster ist. „Das Negative bleibt: ein Wiederaufbau im Sinne des 20. Jahrhunderts mit so vielen verpassten Gelegenheiten, umweltfreundlicher zu werden, verzögerte Ankerprojekte, Probleme, die Menschen wieder in die Innenstadt zu bringen, Entscheidungen von oben nach unten, die die Prioritäten der Regierung widerspiegeln, die nicht mit den lokalen Bedürfnissen übereinstimmen, und extrem langsame Entschädigungsforderungen, die enormen Stress verursacht haben, aber es gibt auch einige echte positive Aspekte, die aus dieser Tragödie hervorgegangen sind und Anlass zur Hoffnung geben.“ Er sagt, dass wie bei anderen Katastrophen eine große Kameradschaft entstand, als Fremde ihr Leben riskierten, um anderen zu helfen, aber im Gegensatz zu anderen Katastrophen hat die Freiwilligenarmee der Studenten, die nach der anfänglichen Verwüstung mobilisiert wurde, nicht nur überlebt, sondern gedeiht. „Normalerweise lösen sich Freiwilligengruppen schnell auf, aber das ist nicht der Fall. Der Wohnungsbestand hat sich definitiv verbessert, die psychische Gesundheit in der Stadt hat einen hohen Stellenwert, und kleinere Projekte, die wir als 'transitional urbanism' bezeichnen würden, haben lokale Anerkennung und weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Und einige Bauwerke wie der Margaret-Mahy-Spielplatz und die neue Zentralbibliothek Tūranga erfreuen sich großer Beliebtheit, weil sie als soziale Infrastruktur fungieren und wirklich demokratische Räume sind; alle sind willkommen, und niemand muss ihre Anwesenheit erklären.“ Und zu guter Letzt sagt er, dass die Stadtverwaltung nun eine echte Partnerschaft mit dem Südinsel-Iwi Ngāi Tahu eingegangen ist. „Die Ngāi Tahu haben nach den Erdbeben Geschichte geschrieben, denn sie waren die erste indigene Gruppe, die nach einer großen Katastrophe ein offizieller Partner beim Wiederaufbau war. Und man kann ihre Präsenz überall in der Stadt in Form von öffentlicher Kunst, Beschilderung, Wahrzeichen und sogar ihrem Māori-Namen Ōtautahi sehen, was ziemlich bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass Christchurch immer als die 'kolonialistischste' unserer Städte galt.“ Dr. Matthewman und sein Team hoffen, diese Ergebnisse einem breiten Publikum präsentieren zu können: betroffenen Gemeindegruppen, anderen Wissenschaftlern, die in ähnlichen Bereichen arbeiten, und schließlich der lokalen und zentralen Regierung. „Wir sind der Meinung, dass Christchurch mit seinen zahlreichen Katastrophen und dem kontrollierten Rückzug aus der roten Zone auch so etwas wie ein Labor für die Welt ist. Wir hoffen, globales Interesse zu wecken, da wir uns auf einem urbanen Planeten befinden, der mit noch nie dagewesenen Umweltbedrohungen konfrontiert ist.» (Quelle: https://www.auckland.ac.nz/en/news/2021/08/25/the-christchurch-rebuild-a-tale-of-two-cities.html)

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